- 3. Instationäre Scherrheologie
3.1. Einführung
3.2. Relaxationsversuch
-
3.3. Kriechversuch
-
3.4. Oszillationsmessungen
3.1. Einführung
Wie im Abschnitt 1 angedeutet, zeigen Materialien neben viskosen
auch mehr oder weniger starke elastische Eigenschaften. Das Verhalten
der Materialien kann als Verschaltung einer Feder (elastische
Eigenschaften) und einem Dämpfer (viskose Eigenschaften)
aufgefasst werden. Man nehme eine Reihenschaltung von Feder und
Dämpfer sowie eine plötzlich einsetzende Kraftwirkung
an. Dann wird zunächst die Feder die Kraftwirkung aufnehmen.
Erst nach und nach entspannt sich die Feder und die Dämpferbewegung
setzt immer stärker ein. Bezogen auf die Dämpferbewegung
erscheint diese Wirkung als eine Art Trägheit im Ansprechverhalten
auf die Deformation. Der elastische Anteil kommt umso mehr zum
Tragen, je kleiner die Deformationen sind und je schneller sie
sich ändern. Bei langsamen Deformationen wird die Feder nur
geringfügig ausgelenkt und der Dämpfer folgt schnell.
Hier dominieren daher die viskosen Widerstände. Die vorhandenen
elastischen Anteile (kleine Auslenkung der Feder) zeigen sich
dann als Normalspannungen (siehe Kap. 5).
Die obige Kombination aus viskosem und elastischem Verhalten
bezeichnet man als viskoelastisches Verhalten. Während der
viskose Teil gut mit den Messungen aus Kap.2 beschrieben werden
kann, sind für die Charakterisierung der elastischen Eigenschaften
weitere Untersuchungen erforderlich. Auf diese wird in den folgenden
Abschnitten eingegangen.

3.2. Relaxationversuch
Zunächst sei der sogenannte Relaxationsversuch betrachtet.
Dabei wird ein Material plötzlich mit einer Scherung g verschert. Das Material reagiert auf die
Scherung mit einer Schubspannung t(t).
Der Versuch kann beispielsweise mit einem Kegel-Platte-System
realisiert werden. Dazu wird der Kegel um einen bestimmten Betrag
verdreht und das Drehmoment als Maß für die Schubspannung
als Funktion der Zeit gemessen.
Ein rein viskoses Fluid zeigt nur bei einer sich ändernden
Scherung (Schergradient
) eine Schubspannung.
Dies gilt beim Relaxationsversuch nur beim Anfangssprung von 0
auf g. Danach ist das System
sofort im Gleichgewicht und die Schubspannung geht wieder auf
0 zurück. Das System hat sich in unendlich kurzer Zeit entspannt
(relaxiert). Dieses Verhalten ist in der Abb.3.2.1 als gestrichelte
Linie angedeutet.
- Abb. 3.2.1 - Zeitliche Verläufe
von Scherung, Schubspannung und Schubmodul beim Relaxationsversuch
Bei einem viskoelastischen Fluid ergibt sich ein abweichendes
Bild, welches bei Betrachtung des Feder-Dämpfer-Modells deutlich
wird. Die sprunghaft einsetzende Deformation wird zunächst
von der Feder aufgenommen und streckt diese. Erst danach beginnt
die Bewegung des Dämpfers und entspannt dabei die Feder,
bis das Material vollkommen entspannt ist. Am Beginn der Deformation
(Scherung) wird der Widerstand des Materials also durch die elastischen
Kräfte bestimmt. Diese können durch das HOOKEsche Gesetz
beschrieben werden :
G ist dabei das sogenannte Schubmodul und in diesem
Fall auch Relaxationsmodul. Dieses kann aus den gemessenen t und g
ermittelt werden und ist ebenfalls in der Abbildung 3.2.1 als
zeitlicher Verlauf jedoch logarithmisch dargestellt :
Zu Beginn der Messung erhält man ein maximales Relaxationsmodul
G(t=0)=G0 , welches vorwiegend die
elastischen Eigenschaften beschreibt. Mit einsetzender viskoser
Deformation entspannt sich die Feder und der elastische Widerstand
sinkt. Entsprechend sinkt auch das Relaxationsmodul über
der Zeit. Der zeitliche Verlauf des Moduls kann in einfachster
Form mit einer Exponentialfuntion der Form :
- Abb.3.2.2.- Schubmodulverlauf
bei komplexen Polymeren mit Relaxationszeitspektrum
beschrieben werden. Die Größe l
wird als Relaxationszeit bezeichnet. Polymere Materialien können
meist nicht als einfache Reihenschaltungen einer Feder und eines
Dämpfers betrachtet werden. Vielmehr sind es Verschaltungen
mehrerer Feder-Dämpfer-Systeme. Der Verlauf des Schubmoduls
wird entsprechend kompliziert (Abb.3.2.2). Jedoch lässt sich
ein derartiger Verlauf beschreiben durch :
Das Material besitzt dann nicht nur eine charakteristische
Relaxationszeit, sondern eine Relaxationszeitsprektrum.
Bei sehr kleinen Scherungen ist das Schubmodul G unabhängig
von der Größe der Scherung, d.h. die Funktionen G(t)
sind gleich (schwarze und blaue Linien in Abb.3.2.1) In diesem
Fall gilt der lineare Zusammenhang zwischen Schubspannung und
Scherung nach dem HOOKEschen Gesetz. Man spricht hier auch von
einer linearen Viskoelastizität des Materials. Diese findet
man bis zu einer maximalen bzw. kritischen Scherung gc. Die Feder kann nur bis zu diesem Betrag
eine Scherung durch elastische Deformation aufnehmen. Verdreht
man das Material über diesen Grenzwert hinaus, dann steigt
die Schubspannung nicht mehr nach dem Hookeschen Gesetzt linear
mit der Scherung an. Bei der Bildung dieses Schubmoduls G(t) liegen
die Kurven dann unterhalb der Kurven für g<gc (rote Kurve
in Abb.3.2.1.). Dieses Verhalten, bei dem Schubspannung und Scherung
nichtlinear miteinander verbunden sind, wird als nichtlineare
Viskoelastizität bezeichnet.

3.3. Kriechversuch
Beim Relaxationsversuch wird die Probe plötzlich verschert
und die Entwicklung der Schubspannung über der Zeit beobachtet.
Im Gegensatz dazu wird beim Kriechversuch plötzlich eine
Schubspannung auf die Probe angewandt und die resultierende Deformation
der Probe erfasst (Abb.3.3.1). Die Betrachtung des Feder-Dämpfer-Modells
sagt voraus, dass die plötzlich einsetzende Kraftwirkung
zunächst die Feder spannt. Der Dämpfer bewegt sich erst
nach und nach. Dies bedeutet, dass zunächst eine elastische
Deformation ohne zeitliche Verzögerung einsetzt. Die viskose
Deformation setzt ein, wenn die elastische Deformation ausgereizt
ist. Dann erfolgt eine kontinuerliche Verscherung der Probe mit
konstanter Schergeschwindigkeit. Der resultierende Verlauf der
Scherung g als Funktion der Zeit ist
in Abb. 3.3.1 dargestellt.
- Abb.3.3.1- Zeitlicher Verlauf
von Schubspannung, Scherung und Kriechnachgiebigkeit beim Kriechversuch
In Anlehnung an die Auswertung des Relaxationsversuchs wird
beim Kriechversuch eine Quotient aus gemessener Scherung und angelegter
Schubspannung, die sogenannte Kriechnachgiebigkeit J, gebildet
:
- Auch der Verlauf dieser Größe ist in der Abb.
3.3.1 dargestellt. Der Verlauf kann näherungsweise durch
eine lineare Funktion der Form J(t)=J0+A
t beschrieben werden. Der erste Term J0,
die stationäre Kriechnachgiebigkeit, umschreibt die rein
elastische Deformation. Bei einem Relaxationsverhalten mit einfacher
Relaxationszeit l entspricht
die Größe J0 dem inversen
Schubmodul G0 aus dem Relaxationsversuch.
Der zweite Term umschreibt die viskose Deformation. Die Änderung
der Scherung bei viskoser Deformation wird durch die Viskosität
beschrieben : Dg/Dt=t/h0.
Die Viskosität h0
ist die sogenannte Nullscherviskosität, d.h. die Viskosität
bei verschwindender Deformationsgeschwindigkeit. Insgesamt ergibt
sich damit folgende Funktion zur Beschreibung des Kriechversuchs
:
- Die elastische Deformation beim Kriechversuch ist reversibel.
Entsprechend wird nach dem Weglassen der Schubspannung eine Rückstellung
des Materials (Zurückdrehen) erfolgen. In der Messung der
Scherung äußert sich dies in einem Absinken der Scherung
nach der Entspannung (Abb.3.3.2). Der Betrag der Scherungsänderung,
bezogen auf die applizierte Schubspannung, ergibt die sogenannte
Kriecherholung, auch Retardation genannt :
- Es ist ein weiteres Maß für die Beschreibung der
elastischen Deformationen im Material und sollte bei vollkommen
ausgebildeter Scherdeformation genau der stationären Kriechnachgiebigkeit
J0 entsprechen.
- Abb.3.3.2 - Funktionsverläufe
bei der Kriecherholung

- 3.4. Oszillationsmessung
- Eine elegante Art, viskose und elastische Eigenschaften eines
Materials zu ermitteln, sind Messungen unter oszillierender Beanspruchung
(Schwingungsmessung). Dazu wird das Material meist einer sinusförmigen
Deformation mit kleiner Amplitude ausgesetzt. Die kleine Amplitude
garantiert dabei die Messung im linearen viskoelastischen Bereich.
In Abb. 3.4.1 ist das Messprinzip dargelegt. Die Probe wird ausgehend
vom Ausgangszustand 1 bis zu einer maximale Auslenkung smax entsprechend einer maximalen Deformation
verschert (Punkt 2). Danach setzt die Gegenbewegung ein, wobei
die höchste Geschwindigkeit am Punkt 3 erhalten wird. Am
Punkt 4 erfolgt dann die erneute Umkehrung der Bewegung. Die
Deformation wird durch eine Sinusfunktion beschrieben, die durch
die zwei Parameter Amplitude und Kreisfrequenz w
charakterisiert ist. Die Kreisfrequenz ergibt sich dabei aus
der Frequenz der Schwingung f nach w=2*p*f.
-
-
- Der zeitliche Verlauf der Scherdeformation kann durch die
dargestellte Sinus-Funktion beschrieben werden. Die Schergeschwindigkeit
ergibt sich dann als Ableitung dieser Sinus-Funktion und zeigt
einen um 90° phasenverschobenen Verlauf.
- Ein ideal elastisches Material hat einen Widerstand proportional
zur Scherung (HOOKEsches Gesetz) mit dem Proportionalitätsfaktor
Elastizitätsmodul G´. Seine Antwort auf eine
sinusförmige Deformation ist entsprechend :
- Hingegen hat ein ideal viskoses Material einen Widerstand
proportional der Schergeschwindigkeit mit dem Proportionalitätsfaktor
Viskosität. Der Term h*w
wird auch als Verlustmodul G´´ bezeichnet.
Ein viskoelastisches Material mit sowohl elastischem als auch
viskosem Verhalten zeigt entsprechend eine Kombination beider
Anteile.
- Ein elastisches Fluid hat einen Widerstand, der in Phase
mit der Scherdeformation liegt, während bei einem viskosem
Fluid der Widerstand um 90° phasenverschoben zur Scherdeformation
verläuft. Ein viskoelastisches Fluid hat daher eine Phasenverschiebung
d, die zwischen 0 und 90°
liegt und sich zu tan d=G``/G`
ergibt. Sie ist ein Maß für die Anteile beider Verhaltensweisen
am Widerstand. Die Gleichung für den Schubspannungsverlauf
kann mit der Phasenverschiebung auch wie folgt formuliert werden
:
- wobei |G*| der Betrag des sogenannten komplexen Moduls
G* ist, welches sich aus dem realen, in Phase mit der
Deformation befindlichen elastischen Anteil G`und dem
90° phasenverschobenen, imaginären Anteil G ``
zusammensetzt :
- In Analogie zum komplexen Modul G* kann auch eine
komplexe Viskosität h*=h´+ih``
gebildet werden mit h`=G``/w und h``=G`/w. Der Betrag
der komplexen Viskosität |h*|
für eine Deformationsfrequenz w
entspricht dabei der stationären Scherviskosität bei
einer Schergeschwindigkeit von
=w (COX-MERZ-Beziehung).
- Die Module G´ und G´´ sind keineswegs konstante
Stoffgrößen. Sie verändern sich mit Amplitude
und Frequenz der angelegten Deformationsfunktion. Entsprechend
werden bei Messungen häufig Bereiche dieser beiden bestimmenden
Parameter durchfahren, wobei man bei variabler Amplitude von
einem Amplituden-Sweep und entsprechend bei variabler Frequenz
von einem Frequenz-Sweep spricht. Ein typischer Verlauf der Module
als Funktion von Frequenz und Amplitude ist in Abb.3.4.2 dargestellt.
- Abb. 3.4.2 - Typische Verläufe
von Speicher- und Verlustmodul als Funktion von Frequenz und
Amplitude
-
- Zunächst sei die Darstellung des Amplituden-Sweeps betrachtet.
Bei kleinen Amplituden bleiben die gemessenen Module konstant,
man befindet sich im linear-viskoelastischen Bereich. Der Übergang
in den nichtlinear-viskoelastischen Bereich zeigt sich in der
Veränderung der Module. Ein Amplitudensweep lässt sich
demnach gut zur Identifizierung des Übergangs nutzen.
- Die häufigste Versuchsart bei Schwingungsmessungen ist
jedoch der Frequenzsweep. Er liefert häufig Verläufe
entsprechend Abb.3.4.2 links.
- Bei kleinen Frequenzen dominiert der viskose Widerstand entsprechend
einem hohen Verlustmodul. Der Anstieg des Verlustmoduls dG``/dw für w®0
definiert die sogenannte Nullviskosität h0. Der Speichermodul steigt mit steigender
Frequenz schneller an und übersteigt ab einer gewissen Frequenz
den Verlustmodul. Ab hier dominieren die elastischen Anteile
am Widerstand. Ähnlich wie beim Relaxationsversuch lässt
sich das frequenzabhängige Verhalten der Module durch ein
Relaxationszeitspektrum beschreiben. Danach ergeben sich die
Module nach :
- Eine gemessene Frequenzabhängigkeit der Module wird
häufig durch ein Relaxationszeitspektrum mit äquidistanten
Relaxationszeiten beschrieben (siehe auch M.Pahl et.al. "Praktische
Rheologie der Kunststoffe und Elastomere",VDI-Verlag, Düsseldorf,
1995).
-
- Die charakteristischen Größen der Schwingungsrheometrie
werden durch verschiedene Stoffeigenschaften bestimmt.
- Insbesondere Molmasse und Struktur der Moleküle sowie
deren Vernetzung spielen eine große Rolle. Nur wenige quantitative
Zusammenhänge existieren zwischen Materialgrößen
und rheologischen Größen. Eine der wenigen Ausnahmen
stellt die Nullviskosität h0 dar, deren Abhängigkeit von der
Molmasse MW des Polymers gut definiert
ist. Es gilt :
- Sind für ein Material die beschreibenden Größen
A1, A2
bzw.MW,c bekannt, dann kann aus
der Messung der Nullviskosität schnell und einfach auf die
Molmasse des Materials geschlossen werden. Dies ermöglicht
einfache Regelungen in der Polymerverarbeitung.
-
- Schwingungsmessungen können prinzipiell mit allen gängigen
Rheometer-Systemen durchgeführt werden, vorausgesetzt die
Mechanik und Elektronik lassen dies zu. Bei der Messung werden
die Anteile des Drehmoments in Phase sowie des 90° phasenverschobenen
Anteils ermittelt und ausgewertet (siehe hierzu auch W.-M. Kulicke
"Fließverhalten von Stoffen und Stoffgemischen",Hüthig
und Wepf Verlag, Basel, 1986, S.91 ff.).